Themen-Spezial: Umfrage im Berliner Gesundheitswesen zur Versorgung nach Gewalt in Paarbeziehungen
Gesundheitsfachpersonen kommen in ihrem beruflichen Alltag – bewusst oder unbewusst – häufig mit Betroffenen von Partnerschaftsgewalt in Kontakt. Um eine bedarfsgerechte Versorgung und Unterstützung anbieten zu können, sind Handlungswissen und -sicherheit im Umgang mit Betroffenen wichtig. Allerdings liegen aktuell in Deutschland kaum Erkenntnisse dazu vor, wie sicher sich Fachpersonen im Umgang mit der Versorgung Betroffener fühlen.

Deshalb beauftragte die S.I.G.N.A.L.-Geschäftsstelle des Runden Tisch Berlin - Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt (RTB) eine Befragung in Berlin zur Handlungssicherheit von Gesundheitsfachpersonen, welche Unterstützung sie sich im Umgang mit Betroffenen wünschen und welche weiteren Bedarfe bestehen. Zusätzlich wurde nach der wahrgenommenen Relevanz der Thematik gefragt, die eine Rolle für die Umsetzung der Intervention bei Gewalt in Paarbeziehungen spielen kann.
Realisiert wurde die Befragung 2021 durch Frau Prof. Dr. Petra J. Brzank. Frau Brzank ist Soziologin, promovierte Gesundheitswissenschaftlerin und lehrt als Professorin an der Hochschule Nordhausen im Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Sie arbeitet seit vielen Jahren zum Thema Gewalt in Paarbeziehungen.
S.I.G.N.A.L.: Sie haben eine Umfrage unter Gesundheitsfachpersonen zur Patient*innenversorgung nach Gewalt in Paarbeziehungen durchgeführt. Was war das Ziel der Befragung?
Fr. Brzank: Zum einen sollten mit der Befragung Forschungslücken zur Bedeutung dieser Problematik im Versorgungsalltag geschlossen werden. Zum anderen bestand beim RTB ein Bedarf an Informationen und Einschätzungen aus der alltäglichen Praxisrealität zur Bedeutung der Thematik im Versorgungsalltag. Als Forschungsfragen haben wir gemeinsam formuliert:
- Wie sicher fühlen sich Fachkräfte in der Versorgung Betroffener?
- Wie/wodurch können sie bestmöglich weiter unterstützt werden?
- Welche Wünsche/Erwartungen haben sie an die Organisationen und den Runden Tisch?
Die Ergebnisse der Befragung sollen in die Planung von oder die Anpassung der bestehenden Maßnahmen des RTB einfließen. Finanziert wurde die Studie durch die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und den Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin. Fachlich und organisatorisch begleitet wurde die Befragung durch die Geschäftsstelle des RTB und unterstützt von Mitgliedern des RTB. Die Studie wurde von Mai 2021 bis November 2021 durchgeführt. Mit einem Anschreiben, das zu Anonymität und zum Datenschutz informierte, wurden Gesundheitsfachkräfte in Berlin über die Mitgliedsorganisationen des RTB und verschiedene Netzwerke angesprochen. Wiederholt wurden Erinnerungsmails verschickt.
Die Beantwortung des Fragebogens war vom 01.08. bis 17.10.2021 möglich. Die Studie im Querschnittdesign basiert auf einer standardisierten Online-Befragung mit einem Fragebogen bestehend aus 38 Items, die überwiegend geschlossen abgefragt wurden und zum Teil mit offenen Konkretisierungsmöglichkeiten ergänzt wurden. Am Ende des Fragebogens erhielten die Teilnehmenden mit einer offenen Frage die Möglichkeit, ihre Wünsche an den RTB auszuführen. Inhalte der Fragen waren neben wenigen Fragen zur Soziodemografie (Beruf, Berufstätigkeit, -ort, -erfahrung, Geschlecht, Alter) die Kontakt-häufigkeit mit Betroffenen (Anteil Frauen/betroffene Kinder, Einfluss von Corona) sowie die Bedeutung des Themas im eigenen beruflichen Alltag, Bereitschaft zur Unterstützung, Handlungssicherheit im Umgang mit Betroffenen von Gewalt in der Paarbeziehung, Hindernisse für die Unterstützungsbereitschaft sowie Wünsche für eine Unterstützung. Der Fragebogen war so konzipiert, dass die Beantwortung maximal etwa 7 Minuten betrug. Die deskriptive univariate Auswertung erfolgte mit SPSS.
S.I.G.N.A.L.: Was sind aus Ihrer Sicht zentrale Ergebnisse?
Fr. Brzank: Insgesamt haben 659 Personen an der Befragung teilgenommen. Mehrheitlich haben Frauen (62 % vs. 19 % Männer und 2 % „divers“) geantwortet, die mit 54 % am häufigsten im Alter über 40 Jahren waren und mit 52 % mehr als eine 15-jährige Berufserfahrung aufweisen. Geantwortet haben am häufigsten Ärzt*innen unterschiedlicher Fachrichtungen (34,5 %) gefolgt von Pflegekräften (15,3 %). Ambulante Versorgung (36,8 %) und Kliniken (20,7 %) sind die häufigsten Beschäftigungsorte. In ihrem beruflichen Alltag hatten 71 % Kontakt mit Betroffenen von Partnergewalt, 18 % waren sich nicht sicher und 12 % verneinten die Frage. Von denjenigen, die einen Kontakt bejahten (n=443), hatte jede*r Zweite monatlich bis halbjährlich Kontakt zu Betroffenen (53 %) und jede*r Siebte (13 %) wöchentlich bis täglich. Der Frauenanteil unter den Betroffenen wird von knapp 70 % auf über 50 % geschätzt. Die Kontakthäufigkeit wird im Vergleich während Corona zur Zeit vorher von 39 % auf gleich häufig , von 18 % auf sehr viel häufiger eingeschätzt und 30 % können es nicht einschätzen. 82 % vermuten eine höhere Dunkelziffer, d. h. sie gehen von einer höheren Anzahl an Kontakten aus, als dass dies offenkundig ist.
Alle Befragten wurden nach der Bedeutung der Thematik im beruflichen Kontext (n=600) gefragt: 43 % gehen von einer (sehr) großen Bedeutung aus, 27 % kreuzten „teils teils“ an und 23 % sehen eine (sehr) geringe Bedeutung. Zusammengefasst sehen 70 % der Befragten das Thema als „teils teils“ bis „sehr bedeutend“ an.
Insbesondere die nachfolgenden Zahlen zeigen eine hohe Sensibilisierung für das Thema unter den antwortenden Gesundheitsfachpersonen. So ist mit 96 % ein sehr hoher Anteil der Befragten bereit für eine Unterstützung (87 % ja; 9 % ja, unter Umständen; 4 % nein). Umstände, die für einige Befragten dabei gegeben sein sollten, sind:
- Informationen/Wissen vorhanden,
- Kompetenzen erlernt/gestärkt,
- Weiterleitung/Kooperationen mit Unterstützungssystem,
- ausreichend Ressourcen wie Zeit, Vergütung,
- Eigenschutz und Rückhalt im Team,
- ausreichende Kapazitäten
Fast alle Antwortenden (93 %) gaben weiter an, dass der Eindruck bestand, die geleistete Unterstützung sei von den Betroffenen als hilfreich empfunden worden (40 % ja, 53 % zum Teil, 7 % nein). Insgesamt sind 90 % der Befragten zumindest einzelne spezifische Unterstützungsmöglichkeiten bekannt (41 % ja, 49 % zum Teil, 10 % nein).
Befragt nach der Handlungssicherheit (s. Abbildung 1) zeigte sich eine größere Sicherheit bei dem Gespräch über einen Unterstützungsbedarf mit Betroffenen (52 %) sowie bei dem aktiven Ansprechen von Gewalterfahrung (47 %). Am wenigsten sicher fühlten sich die Befragten bei der Dokumentation von Verletzungen anhand eines Vordrucks (30 %) sowie bei dem Abklären einer akuten Gefährdung der Betroffenen (32 %) bzw. bei dem Abklären des Unterstützungsbedarfes für mitbetroffene Kinder (32 %).
Als Barrieren für eine Unterstützungsbereitschaft wurde am häufigsten genannt: Unsicherheit im Umgehen mit Betroffenen (46 %), Zeitmangel (41 %) sowie ein fehlender interner Handlungsleitfaden (40 %).
Als hilfreich für eine Unterstützung wurde am häufigsten genannt (s. Abbildung 2): aktuelle Übersicht oder Datenbank über Berliner Unterstützungsstellen (63 %), Informationsmaterialien für Betroffene (mehrsprachig) (61 %), Handlungsabläufe, standardisierte Vorgehensweise, Fallvignetten (56 %), Zusammenarbeit mit einer Fachberatungsstelle für Betroffene von Gewalt in Paarbeziehungen (53 %) sowie Informationen über Angebote für Betroffene mit Kindern (52 %).
S.I.G.N.A.L.: Was wünschen sich die Fachpersonen?
Fr. Brzank: Von den befragten Fachpersonen wurden weitere Wünsche angekreuzt. Nach der Häufigkeit der gewählten Antworten wünschen Sie sich am häufigsten (s. Abbildung 3) mehr gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema (59 %), mehr zielgruppenspezifische Angebote (Beratung, Unterstützung, Zuflucht) (56 %), einen klaren Handlungsauftrag für die Gesundheitsversorgung (52 %), eine bessere Finanzierung der Versorgung bei Gewalt in Paarbeziehungen im Gesundheitsbereich (46 %) sowie mehr Informationen zur Wirkung der Unterstützungsangebote im Gesundheitsbereich (45 %).
S.I.G.N.A.L.: Welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufsgruppen und Versorgungsbereichen konnten Sie feststellen?
Fr. Brzank: Im Hinblick auf die Sensibilisierung und Handlungssicherheit lässt sich auf Basis der Ergebnisse sagen, dass Zahnärzt*innen und (Zahn-)Medizinische Fachangestellte (MFA/ZFA) der Problematik im Vergleich zu den anderen Berufsgruppen zum einen weniger Bedeutung zumessen und zum anderen über weniger Wissen um Unterstützungsangebote sowie Handlungssicherheit in fast allen Bereichen nach eigenen Aussagen verfügen. Es fällt auf, dass sich bei der Dokumentation der Verletzungen anhand eines Körperschematas alle Ärzt*innen unabhängig von der Fachrichtung ähnlich sicher fühlen.
S.I.G.N.A.L.: Wo sehen Sie (gesundheitspolitischen) Handlungsbedarf, um Barrieren bei der Intervention abzubauen und Bedarfen von Gesundheitsfachpersonen gerecht zu werden?
Fr. Brzank: Zuerst einmal möchte ich feststellen, dass meines Erachtens sowohl die hohe Bedeutung (70 %), die dem Problem im eigenen beruflichen Alltag beigemessen wird, als auch die große Unterstützungsbereitschaft von 96 % und die recht hohe Handlungssicherheit in bestimmten Bereichen als Erfolg für die Arbeit des S.I.G.N.A.L. e.V. und des RTB gewertet werden kann.
Bei den Barrieren, den gewünschten Angeboten zur Unterstützung und den weitergehenden Wünschen zeigt sich ein für alle Fachpersonen – egal welcher Fachrichtung – ein ähnliches Bild. Als häufigste Barrieren für eine Unterstützung von Betroffenen von Gewalt in der Paarbeziehung wird ein Zeit- und Personalmangel, ein fehlender klarer Handlungsablauf in Form von Leitfäden sowie die Sprachmittlung genannt. Bei Zahnärzt*innen, Hebammen/Geburtshelfer*innen und MFA/ZFA wird auch sehr häufig eine Unsicherheit im Umgang mit Betroffenen benannt. Als hilfreich wird auch hier, übergreifend von allen Fachpersonen der verschiedensten Bereiche, eine aktuelle Datenbank mit Unterstützungseinrichtungen, mehrsprachiges Informationsmaterial, ein Handlungsleitfaden sowie die Zusammenarbeit mit Fachberatungsstellen benannt. Vor allem Psycholog*innen/Psychiater*innen/Psychotherapeut*innen wünschen sich zudem Informationen über mitbetroffene Kinder, Hebammen/Geburtshelfer*innen Fortbildungen und Pflegekräfte Fallbesprechungen.
Gefragt nach weitergehenden allgemeinen Wünschen werden übergreifend mehr gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Problematik, ein klarer Handlungsauftrag für die Gesundheitsversorgung, eine bessere Finanzierung der Versorgung bei Gewalt in Paarbeziehungen im Gesundheitsbereich, mehr zielgruppenspezifische Angebote sowie von einigen Berufsgruppen zusätzlich noch Informationen zur Wirkung der Unterstützungsangebote im Gesundheitsbereich benannt.
Aus den am häufigsten genannten Antworten ergibt sich zum einen ein klarer Handlungsauftrag an den RTB wie beispielsweise die gewünschte Datenbank, Handlungsleitfäden, mehr Informationen zu verschiedenen Bereichen, Fortbildungen und auch eine stärkere Vernetzung mit den fachspezifischen Beratungsstellen. Für andere benannte Aspekte wie Zeit- und Personalmangel, Finanzierung, Sprachmittlung, gesellschaftliche Auseinandersetzung etc. ist die Gesundheitspolitik in der Verantwortung. Hier geht es darum bessere Strukturen im Gesundheitswesen zu schaffen bzw. die Gesamtgesellschaft zu sensibilisieren, wenn es um eine allgemeine Wahrnehmung und Diskussion von Gewalt in der Paarbeziehung geht.
Auch wenn die Ergebnisse im Hinblick auf die Sensibilisierung der Gesundheitsfachpersonen durchaus zufriedenstellend sind – gibt es noch sehr viel zu tun – auch auf der politischen Ebene. Die von Deutschland ratifizierte Istanbul-Konvention bietet hier den rechtlichen Rahmen, auch für das Gesundheitssystem, und erinnert an die Verantwortungsübernahme in diesem Bereich. Der erste Bericht des Kontrollgremiums zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland wird in Kürze erwartet. Wir können gespannt sein, wie hier die Bewertung – insbesondere für den Gesundheitsbereich – ausfällt.
Kontaktdaten:
Prof.in Petra Brzank
Hochschule Nordhausen - University of Applied Sciencen
Weinberghof 4, 99734 Nordhausen
petra.brzank@hs-nordhausen.de
www.hs-nordhausen.de
Geschäftsstelle Runder Tisch Berlin - Gesundheitsversorgung bei häuslicher und sexualisierter Gewalt
Sprengelstraße 15, 13353 Berlin
RunderTisch@signal-intervention.de
www.signal-intervention.de/die-geschaeftsstelle